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Mythos Fachkräftemangel

Bild: Martin Gaedt
Martin Gaedt strotzt vor Ideen des kreativen Personalmarketings. Foto: © Provotainment GmbH/Viktor Strasse

Die Fachkräfte sind nicht unauffindbar verschwunden. Sie müssen nur kreativ und zielgruppengerecht angesprochen und überzeugt werden – davon ist Buchautor Martin Gaedt überzeugt. Genau wie bei einem Mangel an Kundschaft müssen Unternehmen professionell reagieren und ihr Angebot sowie ihr Marketing verbessern. Dabei ist Kreativität gefragt – zahlreiche Ideen aus der Praxis präsentiert Martin Gaedt bei der Demographie Werkstatt von ddn Hamburg am Mittwoch, dem 7. Februar 2024. Einen Vorgeschmack erhalten Sie hier im Interview.

Sie bezeichnen sich selbst als Provotainer und möchten Ihr Publikum provozieren und inspirieren. Fehlt es deutschen Unternehmen denn an Esprit und Innovationsfähigkeit, an Ideen und Mut? 

Ich möchte Unternehmen aus der Komfortzone locken. Wer vergeblich nach Fachkräften fahndet, sollte überlegen, ob sein Angebot attraktiv ist und ob die Unternehmenskultur magnetisch anzieht. Personal gewinnt die Firma, die mutig und sichtbar ist. Und die ihre Zielgruppe erreicht.

So entdeckte beispielsweise eine Stahlbaufirma, dass Ingenieure und Ingenieurinnen häufig Heavy-Metal-Fans sind. Unter allen Bewerbungen wurden Tickets für das weltberühmte Wacken-Festival verlost. Weil die Tickets ausverkauft waren, sprach sich die Aktion in der Branche wie ein Lauffeuer herum. Die Firma bekam große Aufmerksamkeit und in Folge auch viele gute Bewerbungen.

Müssen Buchhalter und Buchhalterinnen gut recherchieren können? Nein! Müssen sie überzeugende Bewerbungen schreiben können? Nein! Im Bewerbungsgespräch glänzen können? Nein! Wichtig sind Gründlichkeit und Ehrlichkeit. Eine Firma hat beim Bezahlen von Rechnungen drei Cents zu viel überwiesen. Wer den Fehler meldete, bekam ein Jobangebot. Der Einsatz der Firma: wenige Euro.

Mutig? Oder einfach genial? Der Postbote bringt ein Päckchen. Es riecht gut und sieht gut aus. Allerdings ist der Absender unbekannt. Im Päckchen liegt ein Smartphone. Das neueste Modell. Unter dem Smartphone klebt ein Post-it: "Rufen Sie uns an, wir sind Ihr neuer Arbeitgeber". Statt passiv auf Bewerbungen zu warten, hat diese Firma recherchiert, wer zur Firma passt. Die interessantesten 20 Personen wurden mit dem Päckchen überrascht. Wer zusagt, ist durch die Vorauswahl bereits als sicherer Volltreffer qualifiziert.

Kaum ein Tag vergeht, an dem die Medien nicht über den Arbeits- und Fachkräftemangel berichten. Wie können Unternehmen unter diesen Voraussetzungen noch rekrutieren? 

"Fachkräftemangel" steht seit 1984 täglich in allen Medien. Der demographische Wandel wird eine große Herausforderung. Ja! Aber Prognosen bis 2035 halte ich für nicht seriös. Spiegel Online hat 2015 alle Arbeitsmarkt-Prognosen von 2009 für 2015 geprüft. Eingetroffen ist keine einzige Prognose.

Bill Gates spricht inzwischen von einer 3-Tage-Arbeitswoche durch KI-Tools. Solche dynamischen Entwicklungen sind in Voraussagen nie enthalten. Fest steht: Länder, die internationale Fachkräfte willkommen heißen, haben Vorteile. Ausländerfeindliche Debatten und Tendenzen schaden dem Arbeitsmarkt. Die Kernfrage "Warum sollte ich mich dort bewerben?" gilt für Unternehmen und Länder.

Aktuell können wir uns in Deutschland, Österreich und Schweiz über die höchste Zahl an Erwerbstätigen erfreuen, die es jemals gab. Wo sind die fehlenden Fachkräfte? Woanders! Ändert euer Angebot und sorgt für Aufmerksamkeit! 

Das meiste Personalmarketing ist langweilig und fällt nicht auf. Es gibt aber auch sehr kreative Ansätze, von denen man sich etwas abgucken kann. So filmte sich Glaser Sterz regelmäßig auf Baustellen und steigerte seine Bekanntheit auf Facebook. Sein Video zur Azubi-Suche ging 2018 viral. Unter vielen Bewerbungen konnte er drei Lehrlinge auswählen. 

Ein Uhrenmacher fand keine Fachkräfte, also stellte er Zahntechnikerinnen und Zahntechniker ein. Eine tolle Idee, denn sie haben zu 95 Prozent die gesuchten Fähigkeiten: Feingefühl und Präzision.

"Ideenfitness" halten Sie für ein trainierbares Handwerk. Was verstehen Sie darunter und wie können Unternehmen sie erlernen?

Wer an jeder roten Ampel 44 Fragen stellt, stellt in 7 Jahren eine Million Fragen. Jede Frage eröffnet den Freiraum zu einer neuen Antwort. 

Vor welchem Tier rennen Elefanten weg? Die Frage führte zur überraschenden Lösung: Bienen. Jetzt werden rund um die Felder Bienenstöcke gebaut, keine teuren Zäune oder Mauern. 

Werdet Besserfrager statt Besserwisser!

Ich gehe regelmäßig in Unternehmen mit "Delete-Workshops". Denn das Ausmisten von Tätigkeiten ist sehr wirksam: Zu jeder Tätigkeit wird ein Kreis gezeichnet in Bezug auf den Zeiteinsatz – große, mittlere und kleine Kreise. Es folgt ein zweiter Kreis in Bezug auf die Wirkung jeder Tätigkeit, den Beitrag zum Zweck der Firma und Organisation. Dabei zeigen sich große Differenzen zwischen Zeiteinsatz und Wirkung. Häufig kann die Tätigkeit mit der geringsten Wirkung komplett gestrichen werden. In jedem Unternehmen gibt es Tätigkeiten, die stören und ohnehin knappe Ressourcen verschwenden.  

Fragen, streichen, ersetzen ist trainierbar – genauso wie umdrehen, kombinieren, übertragen. Das ist das Handwerk der Innovation. Alles beginnt als Ideen-Baby mit Talenten. Dann wird experimentiert, bis es geht oder andere Wege und Spielregeln besser funktionieren.

Überlastung, Stress und psychische Erkrankungen nehmen zu. Wie können Unternehmen den Workload ihrer Mitarbeitenden reduzieren, wenn es überall an Arbeits- und Fachkräften mangelt?

2022 haben deutsche Unternehmen 42 Milliarden Euro für Krankentage ausgegeben. Dieser Rekord wird 2023 noch mal getoppt. Da spielen viele Faktoren hinein. Klar ist, dass viele Beschäftigte durch Überforderung oder Unterforderung krank werden. Also ist es die Aufgabe, Menschen zu entlasten. Wo das passiert, sinken Krankentage und auch die Fluktuation.

Menschen werden durch zu viele Aufgaben überlastet. Wir sind Meister im Zuviel von allem: Noch ein Projekt, noch ein Tool, noch ein Meeting. Wir sind untrainiert im Entmüllen, Streichen, Reduzieren, Loslassen, Löschen. 

Deshalb ist die Forderung nach einer generellen Arbeitszeitverlängerung kontraproduktiv. Wenn Menschen dann mehr Tage krank sind, ist nichts gewonnen. Es geht um Leistungsfähigkeit. Wir können uns sehr viel beim Leistungssport abschauen. Die Muskeln werden in den Ruhephasen aufgebaut. Es geht um einen sinnvollen Wechsel aus Anstrengung und Erholung, Anspannung und Entspannung. Wichtig sind auch gesunde Ernährung und gute Luft, Sport, positive Unternehmenskulturen und herausfordernde Aufgaben im Job statt "Bore-out". Das steigert alles Wohlstand.

Bild: Martin Geadt mit seinem Buch
Das Buch "4 Tage Woche" ist in diesem Jahr erschienen und enthält Berichte aus 151 Betrieben, die die 4-Tage-Woche umgesetzt haben. Foto: © Provotainment GmbH
In diesem Jahr ist Ihr Buch "4 Tage Woche“ mit Praxis-Beispielen aus 151 Unternehmen erschienen. Was können Unternehmen daraus lernen?

In allen Branchen läuft bereits eine 4-Tage-Woche: Handwerk, Hotellerie, Gastronomie, Produktion, Einzelhandel, Pflege, Krankenhaus, Kita, Stadtverwaltung. Häufig wird die 4-Tage-Woche optional angeboten.

Handwerksbetriebe schließen in der Regel am Freitagmittag. Die Anfahrt zur Kundschaft und Abfahrt von der Baustelle ist am Freitag ineffektiv. Immer mehr Betriebe verlängern Montag bis Donnerstag die Arbeitszeit – es wird also nicht weniger gearbeitet – und die Fahrzeit am Freitag wird den Angestellten geschenkt und so die Arbeitszeit verkürzt. Immer mehr Friseursalons öffnen samstags nicht mehr, denn die Kundschaft schläft dann lieber aus. Sie bevorzugen vermehrt Termine zwischen Dienstag und Freitag nach der Arbeit. Im Handwerk boomt die 4-Tage-Woche. 

Die Ausgestaltung der Arbeitszeiten ist sehr unterschiedlich. Alle verbindet: 3-Tage-Freizeit bei vollem Lohn. Die absolute Mehrheit der Deutschen wünscht sich eine 4-Tage-Woche. Arbeitgebende sollten sich mit dem Thema beschäftigen, denn Arbeitnehmende suchen danach genauso wie nach anderen flexiblen Arbeitszeitmodellen.

Alle 151 Unternehmen, die ich gesprochen habe, wachsen und werden "von Bewerbungen überschwemmt", das sagen sie so. In diesem Jahr haben sich laut dem Magazin "t3n" und "Index-Anzeigendaten" die Stellenanzeigen mit dem Angebot einer 4-Tage-Woche versechsfacht. Hinzu kommen Tausende Betriebe, die mit ihrem Angebot einer 3-Tage-Freizeit in sozialen Medien werben und darüber genug Bewerbungen bekommen.

Der Präsident des Arbeitgeberverbandes, Dr. Rainer V. Dulgur, befürchtet, dass der Fachkräftemangel den Wohlstand in Deutschland gefährdet. Müssen wir unsere Vorstellungen von Leben und Arbeiten überdenken und wie gelingt uns das?

Diese Debatte läuft seit 40 Jahren, sie ist so richtig wie falsch.

Wird Fachkräftemangel beklagt, dann ist das nichts anders als ein Kundenmangel – mit einer besonderen Zielgruppe. Bei Kundenmangel reagieren Unternehmen professionell und verbessern ihr Angebot und ihr Marketing. 

Tischlermeister Julius Kapune wollte beispielsweise mit seinem Betrieb wachsen. Weil er keine Bewerbungen bekam, fragte er seine Kundschaft: „Kennen Sie Tischlerinnen, Tischler, Lehrlinge, Praktikantinnen oder Praktikanten? Dann empfehlen Sie uns bitte!“ Zufriedene Kundschaft gibt gerne eine Empfehlung. Er ist von 9 auf 18 Fachkräfte gewachsen. 

Ja, es geht darum, unsere Vorstellungen von Leben und Arbeiten zu überdenken und Menschen zuzuhören. Warum wollen sie arbeiten? Wofür sind Menschen bereit, ihre Energie einzusetzen? Die entscheidende Frage bleibt: Warum sollte ich mich bewerben? Ist das Unternehmen ein Magnet?

Vielen Dank für das spannende Gespräch, Herr Gaedt. Wir freuen uns auf Ihren Live-Impuls am 7. Februar 2024!

 

Martin Gaedt ist Autor: "4 TAGE WOCHE" (2023), "ROCK YOUR WORK" (2022), "ROCK YOUR IDEA" (2016), "Mythos Fachkräftemangel" (2014). Seit 1999 ist er Unternehmer und war 61 Mal Arbeitgeber. Seit 2014 hat er in 750 Keynotes rund 120.000 Menschen erreicht.


Demographie Werkstatt 2024

Zum  Auftakt des neuen Veranstaltungsjahres von ddn Hamburg laden wir Sie am Mittwoch, dem 7. Februar 2024 von 14:00 Uhr bis 17:00 Uhr, herzlich zur Demographie Werkstatt ein.

Autor und Innovator Martin Gaedt bringt frischen Wind in das Recruiting und zeigt uns, wie Unternehmen trotz Fachkräftemangel genau die richtigen Menschen onboarden können. Seine Vorschläge sind so ungewöhnlich wie inspirierend. Lassen Sie sich überraschen!

Wir haben zudem zwei Unternehmen eingeladen, die uns ihr Best Practice bei der Rekrutierung vorstellen. 

Außerdem lernen Sie die 6 Foren von ddn Hamburg mit samt den Moderatorinnen und Moderatoren kennen. Sie stellen vor, in welchen Handlungsfeldern des Personalmanagements ddn Hamburg 2024 aktiv sein wird.

Die Demographie Werkstatt 2024 findet in Präsenz im Haus der Wirtschaft statt und die Teilnahme ist kostenfrei. Die Anmeldung ist ab sofort freigeschaltet.

Zur kostenfreien Anmeldung


 


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Kontakt

Janna Bischoff   
Tel.: 040 334241-461

Dr. Oliver Borszik
Tel.: 040 334241-336

Tara de Pinho
Tel.: 040 334241-420
 

Susanne Sabisch-Schellhas
Tel.: 040 334241-415

Demographie Werkstatt 2024

 

Wie Unternehmen im Recruiting die Überholspur nehmen

Mittwoch, 7. Februar 2024
von 14:00 Uhr bis 17:00 Uhr
Präsenzveranstaltung:
KWB e. V.
Haus der Wirtschaft
Kapstadtring 10
22297 Hamburg

Veranstaltungsseite

Zur kostenfreien Anmeldung


    Fachkräfte für Hamburg      

                                        
Die Netzwerkstelle "Demographie Netzwerk Hamburg" wird im Rahmen des Projekts "Fachkräfte für Hamburg" von der Behörde für Arbeit, Gesundheit, Soziales, Familie und Integration der Freien und Hansestadt Hamburg finanziert und durch das Aktionsbündnis für Bildung und Beschäftigung Hamburg – Hamburger Fachkräftenetzwerk unterstützt.